Donnerstag, 16. Mai 2013

Celimène – Der Menschenfeind – Molière

zum Stück


Celimene. Madame, ich bin für Ihren Rat erkenntlich
Und halt' ihn für so wenig mißverständlich,
Daß ich sogleich mich dankbar möchte zeigen
Durch einen Rat, der Ihrer Ehre gilt,
Und da Sie mir aus Freundschaft nicht verschweigen,
Wie man auf mich und mein Betragen schilt,
So macht dies edle Beispiel mir zur Pflicht
Zu sagen, was die Welt von Ihnen spricht.
Vor kurzem war ich zu Besuch erschienen
In einem auserwählten Kreise;
Man sprach dort von der besten Lebensweise,
Und unter anderm sprach man auch von Ihnen.
Da ward denn Ihre fromme Tugendlehre
Nicht grad als Muster hingestellt;
Ihr Heil'genschein, den man für künstlich hält,
Ihr ewiges Gered' von Zucht und Ehre,
Ihr Schreien, wenn in unbefangnen Worten
Ein heikler Doppelsinn sich wittern läßt,
Ihr Selbstbewußtsein, das sich allerorten
Ein Mitleidstränchen aus den Augen preßt,
Ihr Kanzelton, der sich damit vergnügt,
Auch Lauterkeit und Unschuld anzuklagen,
Ward, um es grad herauszusagen,
Ganz allgemein verurteilt und gerügt.
Was ist, so frug man, ihrer Andacht Sinn?
Spricht ihrer Maske nicht ihr Leben Hohn?
Denn diese pünktlich fromme Beterin
Schlägt ihr Gesind und zahlt ihm keinen Lohn.
Sie nennt das Kirchenlaufen unerläßlich
Und schminkt, um hübsch zu scheinen, ihr Gesicht;
Auf Bildern ist ihr jede Nacktheit gräßlich;
Doch das Lebendige mißfällt ihr nicht.
Ich stellte mich sogleich auf Ihre Seite
Und sagte laut, daß dies Verleumdung sei;
Doch meine Stimme war im Widerstreite
Mit allen übrigen; man blieb dabei,
Daß Sie, statt andern nachzuspüren,
Sich selber prüfen sollten streng und scharf,
Daß man erst fegen muß vor eignen Türen,
Bevor man alle Welt verdammen darf,
Daß eine Frau nur durch ein Musterleben
Dem Sittentadel gibt Gewicht
Und besser noch anheimstellt das Gericht
Den Leuten, denen Gott dies Amt gegeben.
Madame, Sie werden mich nicht mißverstehn,
Den gutgemeinten Rat mir nicht verargen;
Sei'n Sie versichert, meine Worte bargen
Den regsten Anteil für Ihr Wohlergehn.